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Weißbuch

Nachlassedition TEI Download PDF Download

Zangerl, Lina Maria; linamaria.zangerl@sbg.ac.at

Eine Nachlassedition ist eine Edition von Dokumenten aus persönlicher Provenienz. Unter einem Nachlass sind dabei im weitesten Sinn alle Materialien zu verstehen, die über das private und öffentliche Leben einer Person Aufschluss geben können. Das sind zumeist unikale Schriftstücke, aber auch Drucke, Arbeitsbibliotheken, Bilder, audiovisuelle Materialien und Gegenstände sowie auch digitale Nachlassteile, die sich bei Personen wie Politikerinnen und Politikern, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Künstlerinnen und Künstlern und Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zu ihren Lebzeiten angesammelt haben. (Bülow 2016, S. 145) Während sich die archivarische und bibliothekarische Erschließung von Nachlässen auf das Ordnen und Verzeichnen der Nachlassbestandteile konzentriert, nimmt eine Nachlassedition die Veröffentlichung vor. Historische Nachlasseditionen waren dabei oftmals Manipulationen der Editorinnen und Editoren ausgesetzt, wie berühmte Beispiele (Nietzsche, Novalis, Kafka) zeigen. (Woesler 2003, S. 62)

Der Begriff Nachlassedition wird auch für Editionen einzelner, ausgewählter Quellen aus dem Nachlass verwendet. Meist sind aber vor allem Editionen gemeint, die ganze Nachlässe abzubilden versuchen. Von anderen Editionstypen unterscheidet sich die Nachlassedition dahingehend, dass sie die überlieferten Originale in den Mittelpunkt rückt. Die Edition ganzer Nachlässe hat zum Ziel, wie auch die Archivedition, eine möglichst objektive Erfassung aller Textzeugen im Sinne einer Grundlagenforschung (auch für weitere, aufbauende Editionen) zu präsentieren. (Sahle 2013, I, 218) Faksimilierung und Transkription des Nachlasses sind demnach vorrangig, Textkonstitution und Kommentar spielen im Vergleich zu anderen Editionstypen eine kleinere Rolle. Somit hat die Nachlassedition, wie die Quellenedition, zuallererst einen erschließenden Charakter, der keine bestimmte Interpretation der Dokumente prädisponieren will. Mit der historisch-kritischen Edition hat sie gemein, dass sie möglichst vollständig alle im Nachlass erhaltenen Textvarianten aufnimmt. Beeinflusst von der critique génétique will die Nachlassedition den materiellen Bedingungen des schöpferischen Prozesses Rechnung tragen und zudem die Komplexität der Beziehungen zwischen einzelnen Dokumenten im Nachlass deutlich machen.

In dieser Hinsicht ergeben sich durch digitale Nachlasseditionen neue Möglichkeiten: Die Grenzen zwischen Archiv, textgenetischer Forschung und Edition werden im Digitalen fließend. Als beispielhafte, frühe digitale Nachlassedition kann die 2009 erstmals auf DVD erschienene Klagenfurter Ausgabe sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften Robert Musils gelten. Heute machen vor allem webgestützte Nachlasseditionen die enge Beziehung von archivarisch-bibliothekarischer Erschließung und Edition sinnfällig. Semantic-Web-Technologien bieten neue Möglichkeiten, die umfangreichen thematischen, biografischen und topografischen Verbindungen von Einzeldokumenten und Nachlassteilen untereinander und nach außen aufzuzeigen sowie das (Kontext-)Wissen der Bearbeiterinnen und Bearbeiter zu den Originalen beispielsweise auf Basis von Ontologien zu formalisieren.

Literatur:

  • von Bülow, Ulrich. 2016. Nachlässe. In: Handbuch Archiv. Hrsg. von Marcel Lepper und Ulrich Raulff. Stuttgart, S. 143–152.
  • Sahle, Patrick. 2013. Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 1: Das typografische Erbe. Norderstedt.
  • Woesler, Winfried. 2003. Der Editor und 'sein' Autor. In: editio 17, S. 50–66.

Zitiervorschlag:

Zangerl, Lina Maria. 2021. Nachlassedition. In: KONDE Weißbuch. Hrsg. v. Helmut W. Klug unter Mitarbeit von Selina Galka und Elisabeth Steiner im HRSM Projekt "Kompetenznetzwerk Digitale Edition". Aufgerufen am: . Handle: hdl.handle.net/11471/562.50.140. PID: o:konde.140