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Weißbuch

Materialität TEI Download PDF Download

Bosse, Anke; anke.bosse@aau.at

Ohne Material keine Edition – das gilt seit ihren Anfängen. An den jeweils überlieferten Textzeugen findet jede Edition allererst ihre Berechtigung – aber auch ihre Widerstände, vor allem bei unvollständiger Überlieferung.

Doch ein Bewusstsein für diese unhintergehbare Materialität ließ auf sich warten. Die vor allem noch in den einflussreichen Schriften Hegels ausgeprägte Perspektive auf eine akzidentielle und daher nicht-bedeutungstragende Materialität veränderte sich erst in jüngerer Zeit und führte zu editorischen Konsequenzen. Die jahrhundertelange Tradition der Textkritik – die das Ziel hat, aus dem (fragmentarisch) Überlieferten editorisch den verlorenen Urtext oder einen ‚idealen‘ Text herzustellen – kombinierte sich unter diesem Einfluss bis ins 20. Jahrhundert hinein mit der Textwissenschaft und dem Strukturalismus dergestalt, dass der Text an sich im Fokus stand, unabhängig von seiner materialen und medialen Erscheinungsform. Dies gilt und galt für die seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Texte noch deutlich länger als für mittelalterliche und (früh-)neuzeitliche, denn bei diesen setzte das Bewusstsein für die spezifische Materialität der Überlieferungsträger früher ein, bis schließlich ab Ende des 19. Jahrhunderts die verstärkte Arbeit mit Archivmaterialien im Rahmen historisch-kritischer und textgenetischer Ausgaben, dann vor allem in Faksimile-Ausgaben dieses Bewusstsein auch für ‚moderne‘ Texte schuf – verstärkt durch die critique génétique, die Schreibprozessforschung und den material turn seit den 1960er- und 1970er-Jahren. (Benne 2015, Gumbrecht/Pfeiffer 1988, Grésillon 1999, Hay 2008, Heibach/Rohde 2015)

Zur Beschreibung der konkreten materialen Eigenschaften von Textzeugen sind verschiedene, einander ergänzende Modelle entwickelt worden, die aber je nach dossier génétique oder Edition auszudifferenzieren sind. (Henzel 2015, Lukas/Nutt-Kofoth/Podewski 2014, Röcken 2008, Schubert 2010) Diese Beschreibung dient nicht nur der eindeutigen Identifizierung von Textzeugen, sondern auch ihrer möglichen Datierung, ihrer Vergleichbarkeit, ihrer Funktion im Schreibprozess und/oder in der Textgenese bis hin zur Erfassung autorspezifischer Arbeitsweisen. Materialität entfaltet so eine (praxeologische) Semantik, die das Sinnangebot des Textes erweitert und diesen mehrfach neu perspektiviert.

Faksimile-Ausgaben versuchen, das Original zu simulieren, um ein größeres Publikum teilhaben zu lassen, das keinen Zugang zu den Originalen im Archiv hat [vgl. z. B. Büchner, Kafka]. Spätestens hier musste ein Bewusstsein für die Materialität nicht nur des Überlieferungsträgers, sondern auch der Edition einsetzen: Was ist im Medium Buch darstellbar und vermittelbar, was nicht (mehr)? Müssen einzelne Manuskriptblätter nicht auch als solche in der Edition reproduziert werden? Muss angesichts immer besserer Reproduktionstechniken das Faksimile als solches erkennbar bleiben – und wie? Ist Edition nicht immer auch zwingend mit einem Medienwechsel verbunden? Materialität und Medialität überschneiden sich hier. (Bohnenkamp 2013, Schubert 2010)

Weder diese grundlegenden Fragen noch die möglichst funktionelle Textzeugenbeschreibung noch das Bewusstsein für Materialität sind mit der Digitalisierung seit den 1990er-Jahren ‚vom Tisch‘ – sie verschieben sich nur, wenn auch bedeutend. Mit der Entwicklung von Digitalen Editionen und von Hybrideditionen, die Buch und digitale Komponente verbinden, ist es möglich, einem weltweiten Publikum mittels Open Access die originalen Textzeugen in hochauflösenden Digitalisaten als grafische Oberfläche und mit Metadaten angereichert zugänglich zu machen. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie der Medienwechsel im Digitalen zu präsentieren und zu markieren ist. In Digitalen Editionen und Hybrideditionen geht das, was einmal Textzeugenbeschreibung war, ein in ein jederzeit aktualisierbares Metadaten-Set und weltweit singuläre document identifier. Die Vergleichs-, Datierungs-, Durchsuchungs- und Verlinkungsmöglichkeiten erweitern sich rasant – und mit ihnen die Forschungsperspektiven. Ein offener Prozess – mit interessanten side effects. Denn in Reaktion auf die allgegenwärtige Digitalisierung steigt auffallend das Interesse auch des großen Publikums an dem einen Original, an dessen einzigartiger, materieller Aura.

Literatur:

  • Benne, Christian. 2015. Die Erfindung des Manuskripts: zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit Die Erfindung des Manuskripts. Berlin.
  • Bohnenkamp-Renken, Anne. 2012. Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin, Boston.
  • Büchner, Georg. 1981. Woyzeck: Faksimileausgabe der Handschriften Woyzeck. Leipzig.
  • Grésillon, Almuth. 1999. Literarische Handschriften: Einführung in die "critique génétique" Literarische Handschriften. Bern.
  • Gumbrecht, Hans Ulrich; Elsner, Monika. 1988. Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main.
  • Hay, Louis. 2008. Materialität und Immaterialität der Handschrift. In: editio 22, S. 1–21.
  • Heibach, Christiane; Rohde, Carsten (Hrsg.). 2015. Ästhetik der Materialität. Paderborn.
  • Henzel, Katrin. 2015. Zur Praxis der Handschriftenbeschreibung. Am Beispiel des Modells der historisch-kritischen Edition von Goethes Faust. In: Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte. Berlin, Boston, S. 75–95.
  • Kafka, Franz. 1995. Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte: eine Edition des Instituts für Textkritik Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte.
  • Lukas, Wolfgang; Nutt-Kofoth, Rüdiger; Podewski, Madleen (Hrsg.). 2014. Text - Material - Medium: zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation Text - Material - Medium. Berlin, Boston.
  • Röcken, Per. 2008. Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22, S. 22–46.
  • Schubert, Martin J (Hrsg.). 2010. Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin, Boston.

Zitiervorschlag:

Bosse, Anke. 2021. Materialität. In: KONDE Weißbuch. Hrsg. v. Helmut W. Klug unter Mitarbeit von Selina Galka und Elisabeth Steiner im HRSM Projekt "Kompetenznetzwerk Digitale Edition". Aufgerufen am: . Handle: hdl.handle.net/11471/562.50.127. PID: o:konde.127