Im KONDE-Projekt, das aus Hochschulraumstrukturmitteln finanziert wird, beschäftigten sich sieben universitäre Partner und drei weitere Einrichtungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit theoretischen und praktischen Aspekten der Digitalen Edition. Ein Outcome des Projektes stellt das Weißbuch dar, welches über 200 Artikel zum Thema Digitale Edition umfasst. Die behandelten Themenkomplexe reichen dabei über Digitale Editionswissenschaft im Allgemeinen, Annotation und Modellierung, Interfaces, Archivierung und Metadaten bis hin zu rechtlichen Aspekten.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Georg Hofer
(Projektleitung), Selina Galka, Helmut W. Klug, Helmut Neundlinger, Elisabeth
Steiner, Michaela Thoma-Stammler
Institutionen: Adalbert-Stifter-Institut des Landes
Oberösterreich, Universität Graz – Zentrum für Informationsmodellierung
Fördergeber: BMBWF (HRSM)
Website:
https://gams.uni-graz.at/wiesinger
Der Linzer Autor und Publizist Karl Wiesinger (1923-1991) war ein Mann der Extreme, nicht nur im politischen Sinn: Bis zuletzt überzeugter Kommunist und zuweilen Verehrer so dunkler Figuren der Geschichte wie Stalin und Mao, führte er über 40 Jahre hinweg ein Tagebuch, dessen Umfang und Radikalität seinesgleichen sucht.
Es ist in vielerlei Hinsicht ein Zeitzeugen-Leben, das sich in der Intimität der persönlichen Niederschrift dokumentiert: Von den Bürgerkriegshandlungen im Februar 1934, die Wiesinger als Kind in Linz miterlebte, über den Austrofaschismus, den Einmarsch der Nazis, ein Soldatenleben zwischen Fronteinsatz und Widerstand, die Nachkriegszeit mit dem alles bestimmenden Kalten Krieg bis zum Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1989/90 hat Wiesinger in seinen Aufzeichnungen alles beschrieben und kommentiert.
Einsetzend mit einer Art Rückblende, die er im Jahr 1950 anlegt und in der er
seine persönlichen Erlebnisse und Eindrücke seit dem Jahr 1938 festhält, betreibt
er die Arbeit am Tagebuch mit ausdauernder Regelmäßigkeit bis kurz vor seinem Tod
im Februar 1991. Vgl. Christiane Schnalzer-Beiglböck: Karl Wiesinger
(1923-1991). Eine Monographie unter besonderer Berücksichtigung der
Theaterarbeit. Diplomarbeit, Uni Wien 1995, S. 45f.
Als der Nachlass Wiesingers im Jahr 2012 von einer Nichte des Autors an das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich übergeben wurde, fanden sich darin neben Typoskripten und Dokumenten zu Leben und Werk auch die Tagebücher, allerdings nur jene aus den Jahren 1961 bis 1973, der Rest muss als verschollen gelten. In Kooperation mit dem Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung und dem Zentrum für Informationsmodellierung der Uni Graz wurde im Herbst 2017 eine umfassende Edition der verbliebenen Tagebücher vereinbart und in Angriff genommen.
Die Tagebücher umfassen im Original rund 750 eng beschriebene Typoskriptblätter. Die mittels Texterkennung zunächst in ein Word-Format umgewandelte Textmenge belief sich auf ein Dokument von ca. 850 Seiten (ca. 2 Millionen Zeichen). Inhaltlich begleitet das Tagebuch einerseits Wiesingers schriftstellerische Entwicklung vom Dramatiker zum Romancier, andererseits die für diesen Schritt nicht unwesentliche Zuspitzung des Kalten Krieges zwischen West und Ost. Berücksichtigt man die in den Tagebüchern wiederkehrenden Rückblenden zur eigenen Biographie bis in die Kindheitstage zurück, lässt sich dem Dokument eine umfassende Bedeutung hinsichtlich Leben und Werk Wiesingers zuschreiben.
Nicht nur die materielle Form der Überlieferung (Maschintyposkript auf zum Teil qualitativ dürftigem Papier) legte eine Sicherung bzw. Umwandlung der ursprünglichen Form in eine digitale Fassung nahe. Die grundlegenden Problemstellungen für eine Edition ergaben sich sowohl aus der relativen Unbekanntheit bzw. weitgehenden Vergessenheit des Autors als auch aus der starken zeit- und lokalgeschichtlich bedingten Kontextabhängigkeit.
Eine solche Quelle ist zugleich reizvoll und uferlos sowie durchaus problematisch,
was die Gestalt und die Umsetzung einer Edition betrifft. Die digitale Form bietet
zunächst die Möglichkeit, eine so umfangreiche Quelle nicht nur in ihrer
Gesamtheit zugänglich zu machen, sie kann auch die vielfältigen Verknüpfungen,
Verbindungen und Entwicklungen lesbar machen, die sich über den Verlauf der
Tagebücher zeigen und ausformen. Ein wichtiges Vorbild für die methodische
Kommentierung war diesbezüglich das Editionsprojekt der Tagebücher des deutschen
Schriftstellers und politischen Aktivisten Erich Mühsam (1878-1934), die den
Zeitraum von 1910 bis 1924 umfassen und in einer Hybrid-Edition in Kooperation mit
dem Berliner Verbrecher Verlag von Chris Hirte und Conrad Piens herausgegeben
worden sind. Vgl. http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/index.php
(aufgerufen am 14.4.2020).
Ein wesentlicher Unterschied besteht im simplen Faktum des Entstehungszeitraums: Mühsams Tagebücher wurden vor gut hundert Jahren verfasst, die darin erwähnten Personen sind seit langem tot. Bei den Tagebüchern Wiesingers gestaltet sich die Edition hinsichtlich der Persönlichkeitsrechte deutlich problematischer. Wiesingers oft boshafte und beleidigende Bemerkungen über Bekannte, politische Weggefährten oder Schriftstellerkollegen sind an mehr als einer Stelle dazu angetan, zumindest die Gefühle von noch lebenden Familienmitgliedern oder Freunden der im Tagebuch verunglimpften oder attackierten Personen zu verletzen. Eine entscheidende Frage war nun, wie man ein Tagebuch wie jenes von Wiesinger im Sinne der Bereitstellung eines authentischen Textdokuments überliefert und in welchem Verhältnis man schützend eingreifen muss.
Eine Hauptaufgabe der Arbeit im Rahmen der Edition war es, die schillernden Widersprüchlichkeiten einzufangen, sowohl was das Biographische als auch was das Literarische betrifft. Die digitale Edition der Tagebücher verfügt deshalb über drei Komponenten, die den Text wesentlich ergänzen bzw. kontextualisieren:
Die Digitale Edition wurde mittels des Geisteswissenschaftlichen
Asset Management Systems (GAMS) am Zentrum für Informationsmodellierung
umgesetzt.
Für die digitalisierten Tagebuchtexte wurde gemäß der Richtlinien der Text Encoding Initiative ein Datenmodell entwickelt. Die
Annotation erfolgte mittels vordefinierter Formatvorlagen für die jeweiligen
Entitäten (z. B. Personen, Orte, Institutionen) und anderen Informationen (z. B.
Datumsangaben, Anonymisierungen oder Auslassungen durch den Editor) in Word-Dokumenten. Die annotierten Word-Dokumente wurden mit OxGarage und
XSLT-Stylesheets nach XML/TEI transformiert und letztendlich als TEI/XML-Dokument
pro Jahr persistent zitierbar in der GAMS langzeitarchiviert. Mittels
XSLT-Stylesheets werden die TEI-Dokumente on the fly im Web
zur Anzeige gebracht, wobei hier das CSS-Framework Bootstrap genutzt wird.