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critique génétique TEI Download PDF Download

Lenhart, Elmar; elmar.lenhart@aau.at / Bosse, Anke; anke.bosse@aau.at

Die critique génétique ist eine literaturwissenschaftliche Methode, die seit den 1970er-Jahren die Gesamtheit der materialen Spuren untersucht, die sich einem literarischen Werk zuordnen lassen.

1. Ursprung

Ein Artikel Louis Hays in Le Monde vom Februar 1967 kann heute als die Geburtsstunde der critique génétique gelten. (Bosse 2005) Ihre Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit dem Erwerb des Heine-Nachlasses 1968 durch die Bibliothèque Nationale de France. Eine deutsch-französische Forschergruppe, die sich mit dem Bestand auseinandersetzte, gründete in der Folge das Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM). Anhand moderner, d. h. aus dem 18. bis 20. Jahrhundert stammender Schriftstellermanuskripte und -typoskripte entwickelte das ITEM den methodischen Ansatz, den die critique génétique bis heute weiterentwickelt. War man zu Beginn dem Strukturalismus verpflichtet (Grésillon 1999, S. 15), emanzipierte man sich davon zunehmend, indem man vor allem dessen statischen, von Material und Medium abstrahierenden Textbegriff ablehnte.

2. Perspektive

Die critique génétique rechnet dem literarischen Text alle materialen Spuren zu, die mit dessen Entstehung im Zusammenhang stehen. Im Fokus steht nicht der literarische Text als das gedruckte Produkt eines Schreibprozesses, sondern dieser selbst. Die Aufgabe der critique génétique besteht in der Klassifizierung und Interpretation aller daran beteiligten Schreibzeugnisse. Damit verbunden ist eine „Entheiligung“ und „Entmythisierung“ (Grésillon 1999, S. 17) des definitiven Textes und eine Aufwertung der Rolle des Autors und seiner unmittelbaren schriftlichen Äußerungen. Zwei Metaphern beschreiben die Beziehung der critique génétique zu den von ihr untersuchten Schreibzeugnissen: die der Geburt und die der Konstruktion. (vgl. Grésillon 2016, S. 15–21) Beide Vergleiche illustrieren die Orientierung der critique génétique am Entstehungsprozess des Kunstwerks.

3. Arbeitsweise, Arbeitstechnik und Ziele

Im Zentrum des methodischen Ansatzes der critique génétique steht die Erstellung eines sogenannten dossier génétique, welches alle Schreibzeugnisse, die für die jeweilige Forschungsfrage Relevanz haben, aufnimmt, chronologisch nach ihrer Entstehungszeit ordnet und damit den „généticiens“ (Grésillon 2016, S. 21) die Möglichkeit eröffnet, den Prozess des Schreibens kritisch-interpretierend nachzuzeichnen. Sowohl in der Zusammenstellung des Dossiers wie in dessen Lektüre liegt das kritische Potenzial der critique génétique. Die Gestalt des dossier génétique hängt wesentlich von der Reichhaltigkeit der Überlieferung ab.

Die produktionsästhetische Perspektive, die die Autorin/den Autor und deren/dessen Handeln ins Zentrum des Interesses rückt, führt zur Beschreibung von sogenannten Schreibweisen (écritures), die sich aus den Spezifika der Schreibzeugnisse ablesen und sich auf einer Skala zwischen programmorientiert und prozessorientiert kategorisieren lassen. Entscheidend ist für die critique génétique die Frage, welche Wege Autorinnen und Autoren im Zuge ihrer Arbeit gegangen sind und auf welche Weise diese Wege darstellbar sind. Als besondere Herausforderung erweist sich die Nutzung moderner, digitaler Schreibmedien, die den Begriff der Schreibspur neu definieren und damit wohl auch in Zukunft die Gestalt des dossier génétique entscheidend verändern.

4. Edition

Mit der textgenetischen Edition, wie sie insbesondere in den deutschsprachigen Ländern praktiziert wird, verbindet die critique génétique die starke Berücksichtigung und die Darstellung des avant-textes, jedoch ist jene auf den Text am Ende einer Genese fokussiert und damit weiterhin einem Textbegriff verpflichtet, den die critique génétique zugunsten des prozessualen Textbegriffs und der Darstellung von Schreibprozessen grundsätzlich ablehnt.

Literatur:

  • Bosse, Anke. 2005. Rezension zu: Louis Hay: La littérature des écrivains. Questions de critique génétique. Paris: José Corti 2002. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 19, S. 207–209.
  • Grésillon, Almuth. 1999. Literarische Handschriften: Einführung in die "critique génétique" Literarische Handschriften. Bern.
  • Grésillon, Almuth. 1994. Éléments de critique génétique: lire les manuscrits modernes Éléments de critique génétique. Paris.
  • Critique génétique. URL: https://edlex.de/index.php?title=Critique_génétique
  • Grésillon, Almuth. 2015. Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben. In: Schreiben als Kulturtechnik: Grundlagentexte. Hrsg. von Sandro Zanetti, S. 152–186.
  • Hay, Louis (Hrsg.). 1989. La Naissance du texte. Paris.

Zitiervorschlag:

Lenhart, Elmar; Bosse, Anke. 2021. critique génétique. In: KONDE Weißbuch. Hrsg. v. Helmut W. Klug unter Mitarbeit von Selina Galka und Elisabeth Steiner im HRSM Projekt "Kompetenznetzwerk Digitale Edition". Aufgerufen am: . Handle: hdl.handle.net/11471/562.50.46. PID: o:konde.46