Im KONDE-Projekt, das aus Hochschulraumstrukturmitteln finanziert wird, beschäftigten sich sieben universitäre Partner und drei weitere Einrichtungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit theoretischen und praktischen Aspekten der Digitalen Edition. Ein Outcome des Projektes stellt das Weißbuch dar, welches über 200 Artikel zum Thema Digitale Edition umfasst. Die behandelten Themenkomplexe reichen dabei über Digitale Editionswissenschaft im Allgemeinen, Annotation und Modellierung, Interfaces, Archivierung und Metadaten bis hin zu rechtlichen Aspekten.
Jedes Mal, wenn ein Ausdruck in einem Text erscheint, gewinnt er dort seine Bedeutung durch den Bezug zu einem anderen Text. Diese seine Iterabilität (zeichentheoretisch gesprochen: die allgemeine Wiederholbarkeit) als Möglichkeitsbedingung von Textualität überhaupt zeitigt im literaturwissenschaftlichen Bereich Konsequenzen, denen die digitale Online-Edition literarischer Textkorpora durch Annotation Rechnung zu tragen hat. Sie repräsentiert unter den gegenwärtigen technischen Bedingungen eine neuartige Form von Kommentar, die von der Polysemie des literarischen Textes ausgeht, um sich in einer nicht einschränkenden, nicht urteilenden Art möglicher Verstehensweisen anzunehmen und diese im Rahmen der Kommentierung an die Leser zu vermitteln.
Der althergebrachten editionswissenschaftlichen Forderung, dass der Kommentar dem Text den Weg bahnen solle, kann durch Annotation, d. h. Auszeichnung des Textes nach XML/TEI, Genüge getan werden, insofern sie erlaubt, jene textologisch bedingten Überschneidungen und Überlappungen der Grenzen zwischen Text und Kommentar zu markieren, ohne diese jedoch selbst zu übertreten. Das philologische Ziel, das Textkorpus als Resultat von und Beitrag zu einem größeren Ganzen im Sinne eines letztlich epochenspezifischen Diskurshorizonts erkennbar zu machen, wird dadurch erreicht, dass die Annotation sowohl seine diachronen wie synchronen Aspekte erfasst: diachron, insofern sie die textgenetische wie diskursgeschichtliche Perspektive verzeichnet, welcher sich die faktische Gestalt des Korpus, ob veröffentlicht oder nicht, ob ‘vollendet’ oder fragmentarisch, auf nicht-kausale bzw. nicht-deterministische Weise verdankt; synchron, insofern sie den den jeweiligen Zeitgenossen des Textkorpus mutmaßlich möglichen Verständnishorizont erschließen hilft, ohne den heutigen User auf diesen festzulegen. Die so verstandene Annotation, die die textuellen Dimensionen Textgenese (in den drei Perspektivierungsgrößen Mikro-, Meso- und Makrogenese), Intra- und Intertextualität sowie Interdiskursivität umfasst und für die sich als Umsetzungsform eine Hybridedition empfiehlt, stellt damit die Einlösung des unter traditionellen editorischen Bedingungen unmöglichen Desiderats sicher, dass die Kommentierung des Textes als Teil der digitalen Online-Edition gerade nicht veralte.